von Caroline Williams (spektrum.de)
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8. Februar 2021
In der Öffentlichkeit zu stolpern und hinzufallen, ist ein bisschen peinlich. Glücklicherweise passiert uns das nicht mehr so oft, sobald wir aus dem Spielplatz- und Kindergartenalter heraus sind. Dafür kann es später umso schwerwiegendere Folgen haben, das Gleichgewicht zu verlieren. Die Zahl der Stürze, die zu schweren Verletzungen oder gar zum Tod führen, nimmt weltweit zu – selbst bei jungen Menschen. Meist ist dabei weder Alkohol im Spiel noch machen die Menschen etwas wirklich Kompliziertes. Sie versuchen lediglich, zu gehen oder zu stehen. Auch wenn uns das Gehen leichter fällt, sobald wir dem Kindergartenalter entwachsen sind, sollten Sie deswegen Ihre aufrechte Haltung nicht als selbstverständlich erachten. Die Fähigkeit, das Gleichgewicht auf zwei Beinen zu halten, ist eine der wichtigsten evolutionären Errungenschaften des Menschen. Immer mehr Studien deuten darauf hin, dass wir dabei sind, sie zu verlieren. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellen Stürze nach Verkehrsunfällen weltweit die zweithäufigste Ursache für tödliche Unfälle dar. Laut einer Studie hat sich die Gesamtzahl der tödlichen Stürze zwischen 1990 und 2017 fast verdoppelt. Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, das Gleichgewicht zu verlieren. Eine Annahme könnte sein, dass diese statistische Auffälligkeit lediglich daran liegt, dass die Babyboomer alt werden: Mehr alte Menschen bedeutet logischerweise mehr Stürze. Jüngsten Schätzungen zufolge nimmt die Anzahl der Stürze allerdings deutlich schneller zu, als durch diesen Effekt zu erklären wäre. Was also ist los? Unsere kollektiv abnehmende Stabilität hat Fachleute dazu veranlasst, sich jenes komplexe Zusammenspiel zwischen Körper und Gehirn genauer anzuschauen, das uns hilft, das Gleichgewicht zu halten. Sie versuchen herauszufinden, auf welche Art und Weise das Ganze mit der kognitiven und der emotionalen Verarbeitung von Signalen verbunden ist. Obwohl das System außerordentlich kompliziert ist, hat sich herausgestellt, dass die wichtigsten Störfaktoren recht einfach sind. Das heißt: Es gibt ein paar Dinge, die wir alle tun können, um unser Gleichgewicht zu verbessern und das Sturzrisiko zu verringern. Gehen ist kompliziert Jeder, der in letzter Zeit einmal unbeabsichtigt den Boden geküsst hat, kann sich damit trösten, dass es alles andere als leicht ist, sich auf zwei Beinen fortzubewegen. Vor allem so, wie Menschen es tun: Der Rumpf wird durch die Beine nur sehr schlecht ausbalanciert. Diese Art der Fortbewegung ist so wenig robust, dass wir die einzige Spezies auf diesem Planeten sind, die sie fast ausschließlich nutzt. Der menschliche Körper sei, wenn er aufrecht steht, von Natur aus instabil, sagt Manoj Srinivasan von der Ohio State University. Der Oberkörper macht das Hauptgewicht aus, darunter kommt eine im Verhältnis zu unserer Körpergröße winzige Stützbasis. Als wäre das nicht schon problematisch genug, liegt unser Körperschwerpunkt auch noch weit oben, etwa auf Beckenhöhe, ein klein wenig vor unseren Knöcheln. Selbst wenn wir keinen schweren, umherschwingenden Kopf und Brustkorb hätten, wäre der aufrechte Gang eine Herausforderung. Dass uns das Gehen dennoch problemlos gelingt – zumindest, sofern wir gesund sind –, haben wir einem ausgeklügelten Gehirn-Körper-Netzwerk zu verdanken. Es ordnet die Informationen ein, die es von unseren Muskeln, den Augen und dem Gleichgewichtssystem im Innenohr empfängt. Anschließend steuert es die Muskeln der Beine und des Rumpfes an, um die Körperhaltung entsprechend anzupassen. Die Beinmuskeln leisten dabei die meiste Arbeit. »Wir würden umfallen, wenn wir beim Stehen die gesamte Beinmuskulatur abschalten würden«, sagt Srinivasan. Torkelnd durchs Leben Dass das Kleinhirn bei der Kontrolle von Bewegungen eine Rolle spielt, ist schon lange bekannt. Die jüngere Forschung hat nun gezeigt, dass es auch bei der Feinabstimmung unserer Gedanken und Emotionen eine Rolle spielt. Das könnte erklären, warum manche psychischen Erkrankungen oft mit Gleichgewichtsstörungen einhergehen. Es könnte auch erklären, warum sich Menschen, die dazu aufgefordert werden, eine kognitiv anspruchsvolle Aufgabe zu erledigen, nicht so gut ausbalancieren können. Diejenigen, die bei solchen Studien ihre Aufmerksamkeit darauf richten, das Gleichgewicht zu halten, schneiden hingegen bei der kognitiven Aufgabe schlechter ab. Sprachliche Bilder, die viele Menschen benutzen, um ihre Gefühle beschreiben wie zum Beispiel: »Ich bin emotional stabil« oder »Meine Gefühle sind aus dem Gleichgewicht geraten«, könnten also durchaus zutreffen. Gehen scheint den meisten Menschen keine Mühe zu bereiten. Jedoch ist jeder Schritt ein Prozess, bei dem wir uns immer wieder aufrichten, während unser Oberkörper hin- und hertaumelt. Normalerweise sieht es nicht so aus, als würden wir torkeln. Das liegt daran, dass unser Kleinhirn mit den Nerven und Muskeln zusammenarbeitet und in der Mitte jedes Schrittes winzige Korrekturen vornimmt. Weil das menschliche Gleichgewichtssystem aus so vielen miteinander verbundenen Teilen besteht, kann es auch auf vielfache Weise gestört werden. Unebener Untergrund, Probleme mit dem Gleichgewichtssinn, eine geschwächte Muskulatur oder eine hohe Geschwindigkeit können es schwerer machen, sich aufrecht zu halten. Eine Schwangerschaft, Krankheiten oder Verletzungen – insbesondere der Beine – können das System so stark beeinträchtigen, dass ein Sturz wahrscheinlicher wird. Auch Entzündungen, die meist mit Übergewicht, Stress, Verletzungen oder Infektionen zusammenhängen, können unser Gleichgewicht beeinflussen und dadurch unseren Gang verändern. Auch das könnte das Risiko für Stürze erhöhen. Die Jugend verliert das Gleichgewicht Wenn man Menschen darum bittet, sich mit offenen oder geschlossenen Augen auf ein Bein zu stellen, zeigt sich, dass die Fähigkeit, das Gleichgewicht zu halten, bereits im Alter von 20 Jahren nachlässt. In der Mitte des Lebens steigt also die Wahrscheinlichkeit für schwere Stürze. Doch auch unabhängig davon fallen Menschen immer öfter. Ein Problem bestehe darin, dass sich die Kinder heutzutage nicht genügend bewegen, sagt die Physiologin Dawn Skelton von der britischen Glasgow Caledonian University. Wir bauen unsere Stabilität nach und nach auf. Indem es immer wieder hinfällt und aufsteht, lernt ein Kleinkind allmählich mühelos zu gehen und zu rennen. Je mehr wir dieses System in der Kindheit und im frühen Erwachsenenalter fordern, desto mehr Reserven haben wir, von denen wir im Lauf unseres Lebens zehren können. Zu langes Sitzen, weniger Sportunterricht und kürzere Pausen führten dazu, dass die 20-Jährigen von heute viel wackliger auf den Beinen seien, als sie sein sollten, sagt Skelton. Und von da an geht es nur noch bergab. Die oben genannten Faktoren führen auch dazu, dass die Muskeln, die die jungen Menschen brauchen, um sich aufrecht zu halten, schwächer werden. In der Mitte des Lebens sitzen wir in der Regel noch mehr, was unsere Kraft weiter schwinden lässt und Stürze wahrscheinlicher macht. Der Trend zum vielen Sitzen ist wahrscheinlich auch mitverantwortlich für die steigende Zahl an Stürzen bei jüngeren Erwachsenen. Einer neueren Studie zufolge sind Millenials – also diejenigen, die um die Jahrtausendwende das Erwachsenenalter erreichten – deutlich schwächer als die Erwachsenen der 1980er Jahre. Alles läuft also auf die Botschaft hinaus: Wenn wir uns zu wenig körperlich betätigen, ist unser Gleichgewichtssystem unterfordert und wird von Tag zu Tag schlechter. Glücklicherweise können wir etwas tun, um diesen Prozess zu verlangsamen oder sogar umzukehren. Dafür braucht es keine komplizierten Übungen: Es reicht schon, sich auf ein Bein zu stellen, auf einen Gymnastikball zu setzen oder auf einer Linie zu balancieren, die auf den Boden gezeichnet ist. Laut Studien bewirkt ein solches Training Verbesserungen bei Jung und Alt, auch bei Menschen, die zum Beispiel auf Grund der Parkinsonkrankheit Probleme mit dem Gleichgewicht haben. Um euer Gehirn, euer Gleichgewicht und euren Gang noch besser trainieren zu können, könnt ihr jederzeit bei uns einen Termin für den Skillcourt und/oder die Ganganalyse ausmachen (sobald unser Studio wieder offen hat). Bis bald euer move ONE Team Quelle: https://www.spektrum.de/news/gleichgewicht-warum-wir-immer-oefter-hinfallen/1816727